Die Zukunft der ambulanten Versorgung im Saarland – ein Blick aus KV-Sicht

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Von San.-Rat Prof. Dr. med. Harry Derouet (Vorsitzender des Vorstandes) und Thomas Rehlinger (Stellv. Vorsitzender des Vorstandes)

Das System der Gesundheitsversorgung ist in seiner gegenwärtigen Verfassung nicht zukunftsfähig. Der Grund: Ein absehbarer massiver Personalmangel sowohl im stationären als auch im ambulanten Bereich, bei ärztlichen und nicht ärztlichen Fachkräften.

Bei dieser Aussage handelt es sich nicht um eine aktuelle Stellungnahme des neuen KV-Vorstandes, sondern um die Ergebnisse einer bereits 2010 erschienenen Studie der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PwC mit dem Titel „Fachkräftemangel – stationärer und ambulanter Bereich bis zum Jahr 2030“.

Die Realität hat die Versorgungsstrukturen mittlerweile längst eingeholt. In einer Studie der Robert-Bosch-Stiftung von 2021 wird geschätzt, dass bundesweit bis 2035 11.000 in der Bedarfsplanung ausgeschriebene Hausarztstellen nicht mehr besetzt werden können. Im Saarland sind derzeit 66 Stellen für Hausärzte/-innen nicht besetzt bei insgesamt 658 Stellen (Rückgang um 11,8 % seit 2018 trotz erheblichem Zuwachs an angestellten Hausärzten, n=177). Auch im fachärztlichen Bereich gibt es bereits vereinzelt offene Sitze bei verschiedenen Fachgruppen (z.B. Psychiatrie, Hautärzte/-innen, Kinderärzte/-innen).

Bedarf an Ärztinnen/Ärzten und medizinischen Fachkräften wird sich weiter erhöhen

Die alternde Gesellschaft wird den Bedarf an Ärzte/-innen und medizinischen Fachkräften weiter erhöhen. Die Weiterentwicklung der medizinischen Möglichkeiten durch Forschung ebenfalls. Obwohl die Personenzahl der im Versorgungssystem tätigen Ärzte/-innen und Psychotherapeuten/-innen seit Jahren zunimmt, lassen verschiedene Faktoren die Arztzeit, die für den Patienten zur Verfügung steht, weiter schwinden. Der Trend zur Teilzeitarbeit ist deutlich erkennbar sowohl bei stationär als auch ambulant Tätigen. Wegen der besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familienleben durch geregelte Arbeitsverhältnisse entscheiden sich Ärzte/-innen immer häufiger für eine Festanstellung statt für die Niederlassung. In der Folge hat sich von 2011 bis 2021 die Zahl der angestellten Ärzte/-innen mehr als verdoppelt.

Arbeitszeit wird aber auch verkürzt, um der Arbeitsbelastung noch standhalten zu können. In einer vom Institut für Qualitäts­messung und Evaluation (IQME) durchgeführten Studie des Marburger Bundes berichten 2/3 der antwortenden Ärzte/-innen (n=8464) über personelle Unterbesetzung in Ihren Abteilungen. 25 % der Krankenhausärzte/-innen gaben in dieser Studie an, so demotiviert zu sein, dass sie an eine Aufgabe des Berufes denken.

Darüber hinaus macht auch der demografische Wandel vor der Ärzteschaft nicht halt. Der Anteil der Ärzte/-innen über 60 Jahre hat von 2011 bis 2021 um knapp 10 Prozentpunkte zugenommen. Im Saarland sind aktuell ca. 20 % der an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte/innen 65 Jahre und älter, damit im Rentenalter. Vielen Praxen steht ein Generationenwechsel bevor. Dabei zeigt sich, dass die Nachfolger meist nicht gewillt sind, dauerhaft über 50 Stunden pro Woche zu arbeiten. Dazu kommt noch die Verpflichtung einer regelmäßigen Teilnahme am ärztlichen Bereitschaftsdienst, auch an den Wochenenden.

Zeitfresser Bürokratie

Ein weiterer Zeitfresser ist die Bürokratie. Im Jahr 2020 verschlang sie, statistisch gesehen, in jeder Praxis 61 Arbeitstage (entnommen Hartmannbund 1/2023).  Zeit, die Ärzten/-innen und Psychotherapeuten/-innen bei der Versorgung ihrer Patienten fehlt.

Digitale Anwendungen, die als Testballons in den Praxen gestartet werden, erhöhen den bürokratischen Aufwand nochmals und verstärken die Skepsis der Ärzte- und Psychotherapeutenschaft gegenüber allem Neuen auf diesem Gebiet. Dabei sollten digitale Prozesse das Arbeiten erleichtern und nicht verzögern, was man aber an den bisherigen Anwendungen – auch aus eigener Erfahrung – nicht erkennen kann.

Es dürfte inzwischen ein breiter Konsens sein, dass es so wie es heute ist, nicht weitergehen kann. Die Mammutaufgabe der nächsten Jahre besteht darin, mehr und vor allem komplexer kranke Menschen mit weniger personellen Ressourcen zu versorgen.

Was können wir tun?

Allein mehr Studienplätze werden das Problem auch nicht lösen können, doch wäre ein Anwachsen der Studentenzahl auf das Niveau von 1989 vor der Wiedervereinigung von 15.000 (ca. 9.000 West, ca. 6.000 Ost) durchaus sinnvoll.

Weitere sinnvolle Wege wurden bereits eingeschlagen.

Die flächendeckende Einführung der elektronischen Patientenakte könnte Informations-und Dokumentationsarbeit verringern, wenn sie denn – so wie ursprünglich angedacht – funktioniert und flächendeckend von den Patienten genutzt wird. Doppel- oder Mehrfachuntersuchungen könnten bei Vorlage eines elektronisch verfügbaren Befundes minimiert werden.

Die hausarztzentrierte Primärversorgung wurde bereits früher empfohlen, ist derzeit jedoch wegen Fehlens einer ausreichenden Zahl an Primärversorgern nicht umsetzbar. Dies heißt aber nicht, dass das Projekt aufgegeben werden sollte.

Politisch vorgesehen ist auch die Reduktion von Krankenhausbetten und der Ausbau ambulant-stationärer Primärversorgungszentren. Insbesondere im Saarland mit seiner hohen Krankenhausbettendichte stellt dies ein Gebot der Stunde dar. Bereits jetzt sind die im Krankenhausplan ausgewiesenen Betten vielerorts – insbesondere wegen des Mangels an Pflegepersonal – auch im Notfall nicht verfügbar. Die Häuser werden dann kurzfristig aus der Notfallversorgung abgemeldet. Ein untragbarer Zustand für die Rettungsleitstellen, die an Zeitfenster gebunden sind.

Modellversuche

Modellversuche zur Umwandlung von Krankenhäusern in IGZ sind bereits angelaufen. Diese Versorgungszentren könnten die Versorgung von Patienten, die über einen Kurzaufenthalt von 1-2 Tagen zu therapieren sind, übernehmen und sich die Krankenhäuser so auf die Therapie schwerkranker Patienten fokussieren. Hier muss die Versorgung insgesamt unter Beteiligung aller (!) an der Versorgung Teilnehmenden neu geplant werden. Insbesondere können die Kosten der Umwandlung von stationären Betten in Belegbetten nicht später aus dem Haushalt der KV finanziert werden.

Sektorenübergreifende Planung nötig

Der Sicherstellungsauftrag für die ambulante Versorgung liegt zwar bei der Kassenärztlichen Vereinigung, aufgrund der erodierenden Personalressourcen in Klinik und Praxis muss die künftige medizinische Versorgung der Bevölkerung jedoch sektorenübergreifend geplant werden. Es setzt zudem voraus, dass wir für die Menschen, die dort arbeiten, auch eine nachhaltige Arbeitsform finden, in der bürokratische Reglementierungen zurückgedrängt werden und eigenverantwortliches Arbeiten außerhalb von Hierarchieebenen gestärkt wird. Wir müssen ein Arbeitsumfeld schaffen, in dem gerne gearbeitet wird und in dem sich die Leute nicht ausgenutzt fühlen. Und dies gilt nicht nur für Ärzte/-innen, sondern für alle medizinischen Berufe. Eine Voraussetzung solche Arbeitsplätze anbieten zu können, ist die Befreiung vom Kostendruck, der auf den Arbeitgebern lastet, d.h. die Budgetierung muss aufgehoben werden hin zu einer nachhaltigen, kostendeckenden Finanzierung unseres Gesundheitswesens.

Inanspruchnahme der 116117

Neben dem dramatischen Mangel an Allgemeinmedizinern haben wir im Saarland ein Problem bei der ambulanten Notfallinanspruchnahme über die 116117. Diese steigt im Saarland jährlich zweistellig. Dies ist bereits jetzt kaum noch zu bewältigen. Langfristig halten wir eine Befreiung der unserer Mitglieder von der Dienstbereitschaft für notwendig. Die KV sollte diesen Auftrag selbst über angestellte Ärzte/-innen managen, wobei den vertragsärztlich tätigen Ärzten/-innen eine freiwillige Teilnahme ermöglicht werden soll. Dies wäre aus unserer Sicht ein entscheidender Beitrag, die vertragsärztliche Tätigkeit auch für Frauen attraktiver zu machen. Hieran anknüpfend sollte bei den Fahreinsätzen – ähnlich wie beim Rettungsdienst – ein Fahrer finanziert werden, um nicht nachts alleine die Patienten aufsuchen zu müssen. Ein solcher Auftrag wird jedoch nicht ohne zusätzliche Kosten zu bewerkstelligen sein. Hier müssen sowohl die Krankenkassen als auch der Staat, der in seinem Positionspapier die Notfallversorgung als „Daseinsvorsorge“ tituliert hat, in die Kostenverantwortung genommen werden.

Neue Wege gehen

Wir müssen aber auch und zwar jetzt (!) der Bevölkerung ehrlich kommunizieren, dass sich die medizinische Versorgung in Zukunft für die Patienten verändern wird. Ohne eine Patientensteuerung kann das Gesundheitswesen mit weniger medizinischem Personal bei steigendem Leistungsbedarf auf Dauer nicht funktionieren. Es muss akzeptiert werden, dass die Wege für medizinische Versorgung weiter und die Wartezeiten länger werden. Kurzfristig müssen Anreizsysteme geschaffen werden, um die medizinische Notfallbehandlung vor dem Kollaps zu bewahren. Ein Selbstbeteiligungsmodell wäre keine deutsche Erfindung, sondern wird bereits in anderen Ländern (z.B. Skandinavien) längst praktiziert. Wir können es uns einfach nicht mehr leisten, dass Deutschland weltweit die höchste Zahl an Arzt-Patienten-Kontakten hat, obwohl die dafür notwendigen Ressourcen derzeit schon fehlen. Die wahrscheinlich größte ungehobene Ressource in der Medizin sind überflüssige Arzt-Patienten-Kontakte mit nachfolgender überflüssiger Diagnostik. Hierüber klagen insbesondere die in der Notfallversorgung tätigen Kolleginnen und Kollegen. Ein sicher unpopuläres Zuzahlungsmodell könnte hier aus unserer Sicht Abhilfe schaffen, von dem auch die Krankenkassen profitieren könnten, um langfristig die Beiträge für den einzelnen Versicherten noch finanzierbar zu machen.

Auch sollte darüber nachgedacht werden die Ressource nicht wahrgenommener Patiententermine zu sanktionieren. Wir haben im Saarland eine Umfrage unter den Vertragsärzten/-innen und Psychotherapeuten/-innen für das 2. Quartal 2023 gestartet, um genaue Vorstellungen über die Dimension des Problems zu erhalten. Die Ergebnisse werden wir natürlich der Politik und Öffentlichkeit vortragen.

Bestehen Politik und Krankenkassen auf einer Fortführung der Budgetierung der Leistungserbringer, sollte man diskutieren, die Zahl der gesetzlichen Krankenkassen auf eine zu reduzieren. Dies würde auch den Aufwand für den Risikostrukturausgleich entbehrlich machen.

Wir müssen jetzt neue Wege gehen und zwar alle zusammen, um nicht hinterher einen Schuldigen für den Zusammenbruch des Systems suchen zu müssen.

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