Zweistellige jährliche Zuwachsraten bei der Inanspruchnahme der 116117 der KV Saarland

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Zweistellige jährliche Zuwachsraten bei der Inanspruchnahme der 116117 der KV Saarland – wer will die Flut eindämmen und wer soll sie bedienen?

H. Derouet, T. Rehlinger

Der Reformbedarf in der deutschen Notfallversorgung ist eklatant und dringend, ist politisch unstrittig und auf wissenschaftlicher und politischer Ebene vielfach kommuniziert. Der Grund wird hierin gesehen, das sich immer mehr Patientinnen und Patienten ohne jegliche telefonische Vorabklärung über die Notrufnummer 112 oder den von den Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) über die 116117 bereitgestellten ärztlichen Bereitschaftsdienst direkt in den ambulanten Notaufnahmen der Krankenhäuser vorstellen.

Abhilfe wird hier von verschiedenen Entscheidungsträgern in der zwingenden Vorschaltung der Anwahl der Notfallrufnummern gesehen. Die KV-Saarland hat eine Analyse der 116117 Inanspruchnahme im Zeitraum 1/2020 – 8/2023 vorgenommen. Die Ergebnisse und die daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen werden im Folgenden dargestellt.

Material und Methode:

Im Zeitraum 1/2020 – 8/2023 wurden alle an die gemeinsame Rufnummer 116117 (Notfall- und Terminservicenummer) eingehenden Anrufe dokumentiert und die Fallzahlentwicklung über die Jahre erfasst. Bei Notfallanrufen wurde an den diensthabenden Arzt weitergeleitet. Die Terminservicestelle vermittelte die gewünschten Termine an die jeweiligen Haus- und Fachärzte sowie Psychotherapeuten.

Ergebnisse:

Mit Ausnahme des Pandemiejahres 2021 sind hohe Zuwachsraten der Anrufe über die 116117 bezüglich der Notfälle zu verzeichnen (Abb. 1). Diese setzen sich auch im Jahre 2023 fort.

Abb. 1: Häufigkeit der Telefonanrufe an die 116117 2020-2023

Sehr starke Zuwächse finden sich auch bei der Nachfrage bei dringenden Arztterminen, die ebenfalls über die 116117 Terminservicestelle (TSS) organisiert werden (Abb. 2).

Abb. 2: hohe Steigerung der Nachfrage nach dringenden Arztterminen (insbesondere Gastroenterologie, Radiologie (spezielle Untersuchungen), Kinder- und Jugendmedizin, Kinderpsychiatrie)

Außerdem gibt es einen massiv steigenden Bedarf an Terminen bei Psychotherapeuten (Erwachsenen- und Kinder- und Jugendpsychotherapie) (Abb. 3).

Abb. 3: Steigerung der Nachfrage nach Psychotherapie-Terminen

Akutbehandlung: Behandlung innerhalb von 2 Wochen; im Anschluss an Sprechstundentermin (= „Erstgespräch“), unabhängig von der Therapieform (Verhaltenstherapie, tiefenpsychologisch fundierte Therapie, analytische Therapie)

Probatorik: Behandlung innerhalb von 4 Wochen, wenn Vorgabe durch Psychotherapeut des Erstgesprächs: „zeitnah erforderlich“; im Anschluss an Sprechstundentermine, vor der Aufnahme auf einen Therapieplatz, bei einem Therapeuten mit der individuell benötigten Fachrichtung (z.B. Verhaltenstherapie)

Diskussion:

Dem unbegrenzten Leistungsversprechen der Politik und der unbegrenzten Inanspruchnahme medizinischer Leistungen durch Patientinnen und Patienten stehen künftig zunehmend weniger Ressourcen gegenüber. Dieses Missverhältnis ist auf Dauer nicht tragbar. Mitarbeiter in den Leitstellen der 116117 berichten darüber hinaus zunehmend über Anrufe, die immer unverschämter und vor allem verbal übergriffig werden bis hin zur persönlichen Beleidigung oder Bedrohung. Hinzu kommen auch Wiederholungsanrufe von Patienten, wenn aus deren Sicht die von ihnen gewünschten Maßnahmen nicht in vollem Umfang erfolgen konnten, jedoch aus medizinischer Sicht die korrekte Vorgehensweise eingeleitet wurde (z.B. eine Anruferin -> 17 Anrufe in 70 Minuten, da der Termin nur in 10 km Entfernung vom Wohnort zu vermitteln war, was für sie nicht akzeptabel war). Dies belastet die Notfallaufnahme weiter und führt zu unnötigen Wartezeiten bei anderen Patienten.

Die Notwendigkeit des gesetzlich vorgeschriebenen Ersteinschätzungsverfahrens (SmED) wird von einzelnen Anrufern bestritten und die Mitarbeiter, die ihren Auftrag erfüllen, beleidigt. Dies erschwert den Arbeitsablauf und macht den Arbeitsplatz für den Mitarbeiter weniger attraktiv.

Zweistellige jährliche Steigerungsraten für über die 116117 angeforderte dringende medizinische Behandlungen stehen durch die gesetzlich vorgegebene Bedarfsplanung gedeckelten Arztzahlen gegenüber, die das System bedienen sollen. Der Bedarfsplan der letzten 10 Jahre sieht praktisch keine Steigerung der Arztzahlen vor (Abb. 4) und berücksichtigt nicht Überalterung und zunehmenden medizinischen Bedarf der Bevölkerung.

Abb. 4: Bedarfsplanung für Ärzte berücksichtigt nicht den höheren Behandlungsbedarf durch Überalterung und Entwicklung des medizinischen Fortschrittes. Die zunehmende Arztzahl erklärt sich durch die zunehmende Tätigkeit in Teilzeit, was aber den Umfang der Versorgungstätigkeit nicht verbessern kann.

Aber selbst die Bedarfsplanung kann in verschiedenen Bereichen des Saarlandes derzeit schon nicht mehr erfüllt werden (Stand 8/2023: 58,5 offene Hausarztsitze, 11 offene Facharztsitze). Dem zu bedienenden steigenden Bedarf steht eine schrumpfende, überalterte saarländische Ärzteschaft gegenüber. Zudem verschlechtert die unzureichende Termintreue (vergleiche Studie KVS) weiter die Möglichkeit der ausreichenden Terminvermittlung.

Schlussfolgerungen:

Anhand der Ergebnisse der Studie kommt klar zur Darstellung, dass die ambulante Notfallversorgung über die 116117 ohne eine adäquate Patientensteuerung oder einen Ausbau der KV-Strukturen künftig nicht mehr leistbar sein wird. Damit wird das Ziel der Entlastung der Krankenhausnotfallambulanzen durch vermehrte Inanspruchnahme des KV-Dienstes nicht erreichbar sein. Ein Ausbau der entsprechenden Strukturen der KV ist unter der gesetzlich vorgegeben finanziellen Budgetneutralität und der Bedarfsplanrichtlinie für die Arztzahlen in der ambulanten Versorgung nicht möglich. Die benötigten Ärzte stehen somit nicht zur Verfügung. Hier ist die Politik gefragt, die Existenz des Problems zu akzeptieren und entsprechende Maßnahmen in die Wege zu leiten. Auch muss die Öffentlichkeit über die begrenzten Ressourcen in der Notfallversorgung besser informiert und Eigenverantwortung eingefordert werden. Da die Arztzahl kurzfristig nicht zu steigern ist, bleibt als einzige Möglichkeit nur die Patientensteuerung oder die Substitution ärztlicher Tätigkeit durch andere medizinische Professionen. Letzteres käme aber einem Qualitätsverlust der ambulanten medizinischen Versorgung gleich, abgesehen von den unkalkulierbaren juristisch haftpflichtmäßigen Konsequenzen. Auch sind hier enge Grenzen wegen eines gleichzeitig in anderen medizinischen Fachgebieten ebenfalls vorhandenen Fachkräftemangels gesetzt. Da auch die anderen Sozialsysteme (Rente, Pflege) unter großem finanziellem Druck stehen, dürfte eine Ausgabenerhöhung seitens der Versicherungssysteme bzw. des Staates kaum realistisch erscheinen.

Der Artikel wurde in der November-Ausgabe des Saarländischen Ärzteblattes veröffentlicht. Downloadmöglichkeit siehe unten.

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